Zu den Tagen der Industriekultur führt Werkleiter Marco Bauch beinahe stündlich durch seinen Betrieb. Heute finden auch in anderen Unternehmen der Region Führungen statt.
Es gibt sie noch, die Helden der Arbeit, die sich auch die Hände dreckig machen. Anton Marx ist so einer. In der größten Sommerhitze steht er in der Fabrikhalle und gießt Eisen in Formen. Die glutrote Schmelze ist 1400 Grad heiß, heißer als Lava. Vor den Temperaturen schützt sich der junge Mann mit feuerfestem Aluminiummantel und goldbedampftem Visier.
Aus Anlass der Tage der Industriekultur öffnete auch die Gießerei Wurzen ihre Tore. Betriebsleiter Marco Bauch führte stündlich durch den Betrieb, dessen Gusskomponenten weltweit im Einsatz sind. Viele Wurzener folgten der Einladung. Kein Wunder: Im Digitalzeitalter ist die Sehnsucht nach Schweiß und Schmutz groß.
Schweiß ja, Schmutz jein. Früher, als noch mit Koks gearbeitet wurde, sei deutlich mehr Ruß angefallen, relativiert der Chef. 2002 habe man den Ofen auf Strom umgestellt. Bauch vergleicht das mit dem Induktionsherd zu Hause: „Auch wir kochen hier unser Süppchen. Nur sind weder Kartoffeln noch Zwiebeln drin, sondern Mangan, Silizium, Kupfer & Co.“
Der Tanz am Lavastrom: Schmelzer Anton Marx schützt sich mit Visier und feuerfestem Aluminiummantel. Das glutrote Eisen ist 1400 Grad Celsius heiß.Foto: Haig Latchinian
Gießer sind immer in Form
Gießer sind immer in Form, steht auf einem T-Shirt. Dabei brauchen die Arbeiter nicht nur Muckis, sondern auch Grips: Denn bis aus dem Modell das fertige Gussteil wird, muss der Gießer gedanklich immer wieder zwischen Positiv und Negativ umswitchen. „Es ist ein bisschen wie das Spielen mit Förmchen im Sandkasten“, lacht Stephan Brotka.
Der Vorarbeiter ist seit 19 Jahren im Betrieb. Er würde immer wieder Gießer werden: „Die Arbeit ist sehr abwechslungsreich. Du stehst eben nicht wie beim Autobauer acht Stunden am Fließband, sondern machst jeden Tag was anderes. Das eine Mal ist es etwa der kleine Flansch, das andere Mal die fünf Tonnen schwere Unterkonstruktion einer Maschine.“
Preisfrage: Wie lange braucht ein solcher Fünf-Tonnen-Koloss, bis er erkaltet ist? Antwort: Mindestens eine Woche! Und dann wäre er immer noch so heiß, dass man sich daran die Finger verbrennt. Die Wurzener Gießerei hat sich auf Einzelteile, Prototypen und Kleinstserien spezialisiert. Im Lager stehen inzwischen 15.000(!) Modelle.
Die Geschichte des Hauses reicht bis 1879 zurück. Damals gründeten Gustav Adolf Schütz und Ernst Hertel die Maschinenfabrik. Wasserstoff-Kompressoren aus Wurzen versorgten sogar Zeppelin-Luftschiffe. 1929 präsentierte der Betrieb ein neues Verfahren zur Trockeneisherstellung. Bis 1934 wurden weltweit 37 solcher Anlagen verschifft. Nach dem Krieg ließ die Besatzungsmacht fast 80 Prozent der Maschinen demontieren. Der nun volkseigene Betrieb lief weiter. 1953 wurde im Werk das „Freundschaftsdenkmal“ gegossen. Es zeigt einen sowjetischen Offizier und einen deutschen Arbeiter. Es ist noch heute im Wurzener Stadtpark zu sehen.
„Wir haben auch die gusseisernen Füße der Wurzener Marktbänke gegossen“, berichtet Betriebsleiter Bauch. Wie die Dauerbackwaren und Scherzkeks Ringelnatz gehört auch die Gießerei untrennbar zu Wurzen. Arbeiteten 1989 noch hunderte Menschen in dem Betrieb, so sind es in der nun 100-prozentigen Tochter der Topol GmbH noch 25.
In der Gießerei Wurzen ist Produktion noch mit allen Sinnen zu erleben. Foto: Haig Latchinian
Höhepunkte der Industriekultur
Tourismus- und Gewerbeverein Eilenburg sowie Standortinitiative Wurzen bitten am heutigen 7. September nacheinander zu Höhepunkten der Industriekultur: Los geht es um 10 Uhr in der Sternwarte Eilenburg. 12 Uhr folgt der Besuch der Röcknitzer Ausstellung „Supervulkane in Sachsen“, 13.30 Uhr des Steinarbeiterhauses Hohburg und 15 Uhr der Gießerei Wurzen. Die Stationen können per Auto oder Rad erreicht werden.
Mit Zertifikaten zum Bau von Teilen für die Bahn, für Schiffe, sogar U-Boote behauptet sich die Gießerei auch in Krisenzeiten am Markt. Zwar bescheren ihr die hohen Energiepreise mitunter Wettbewerbsnachteile. Doch mit Umstellung auf LED und perspektivisch möglicher Nutzung von Photovoltaik würden zusätzlich Kosten verringert.
Die Gießerei arbeitet nachhaltig: „Wir nutzen Sekundärrohstoffe. Und: Jedes Produkt, das wir herstellen, kann mehrfach wiederverwendet werden“, sagt Marco Bauch. Die Wurzener sind stolz, auch während Corona weiter produziert zu haben. Obwohl der Alkohol knapp wurde.
Alkohol? Betriebsleiter Bauch lacht: „Auch wenn es in der Halle nach Alkohol riecht – wir trinken ihn nicht. Wir brauchen das Isopropanol als Trägermedium fürs feuerfeste Material.“ In der Pandemie wurde Alkohol massenhaft zum Desinfizieren genutzt. Wegen des so entstandenen Engpasses musste der Chef immer wieder betonen: „Wir Gießer brauchen dringend Alkohol.“
Von Haig Latchinian
Quelle LVZ vom 07.09.2024