Etwa 400 Menschen gingen am Sonntag in Wurzen für Demokratie und Toleranz auf die Straße. Gleichzeitig gab es einen Aufzug gegen „linke Hetze“. Ein Großaufgebot der Polizei trennte die Lager.
Von Haig Latchinian und Roger Dietze
Wurzen.
Einen ungewöhnlich schnellen Schluss hat die Kundgebung gegen rechts auf dem Wurzener Marktplatz gefunden. Gegen 16.30 Uhr ist sie vorzeitig abgebrochen worden. Die Kührener Pfarrerin Elisabeth Fichtner konnte gerade noch ihr Bibelwort zu Ende bringen: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ Die Teilnehmer hatten einen Knall aus dem oberen Stockwerk eines Gebäudes am Platz gehört. Daraufhin heulten die Sirenen, dann trafen die Feuerwehrleute ein.
Zuvor hatte Wurzen Polizisten in Schutzwesten, einen Notarztwagen, dazu eine Gegendemo gesehen: Es gibt gewiss Orte, an denen man einen Yoga-Lehrer eher vermutet. Und doch war Michael Voigt am frühen Nachmittag in die Stadt gekommen: „Wir alle atmen die gleiche Luft. Uns allen scheint dieselbe Sonne.“ Er beschwor die Liebe, die Großes bewirken und heilen könne.
Der Yoga-Lehrer war einer von 400 bunten Kundgebungsteilnehmern. Unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt – Demokratie und Toleranz im Wurzener Land“ ergriff Martina Glass vom Netzwerk für Demokratische Kultur das Wort. „Nie wieder soll es Menschen gelingen, an die Macht zu kommen, die dieses ,Nie wieder‘ mit Füßen treten.“ Zwischen 2013 und 2022 habe es im Landkreis Leipzig mehr als 200 politisch rechts motivierte Gewalttaten gegeben, sagte sie.
Kirche beteiligt sich an Kundgebung für Toleranz
Gymnasiallehrerin Heike Krause wünscht sich ein weltoffenes Wurzen: „Das erlebe ich gerade nicht“, betonte die Wurzenerin. Sie selbst betreute zwischen 2016 und 2019 Flüchtlinge aus Eritrea, die permanent angegriffen worden seien. Bei ihrer Arbeit heute nehme sie eine zunehmende Gleichgültigkeit und die Übernahme populistischer Äußerungen wahr.
Der öffentliche Sonntag in Wurzen hatte mit dem Gottesdienst im Dom begonnen. Pfarrer Alexander Wieckowski bezeichnete Judenhass und Rassismus als Verbrechen. In seiner Predigt ermutigte er die Gläubigen, mit allen im Gespräch zu bleiben und Brücken zu bauen. Das Niederbrüllen helfe nicht weiter. Ausdrücklich lud er zur Kundgebung am Nachmittag ein.
„Und das auch, wenn Euch nicht jede Äußerung gefällt“, sagte der Pfarrer. Gabriele Pohl folgte dem Ruf des Pfarrers. Sie sei 1989 dabei gewesen, als in Wurzen die Demokratie erkämpft wurde, sagte die Seniorin. Vera vom Verein Rosa Linde appellierte zur Solidarität mit queeren Flüchtlingen. Sie bedauerte, dass ihr Bildungsprojekt in Schulen nicht weiter gefördert werde.
Auf Höhe des Alten Rathauses passierte der von der Polizei abgeschirmte Gegenprotest kurzzeitig den Markt: 40 Demonstranten, darunter auch Junge Nationalisten mit ihren Fahnen, hatten ein Transparent dabei: „Die spinnen, die Linken“. – „Nazis raus“, schallte es immer wieder aus Richtung Markt. Toleranz wurde auf Englisch, Portugiesisch und Russisch eingefordert.
Katrin Saborowski war mit ihren „Omas gegen rechts“ aus Leipzig angereist. Sie bedankte sich ausdrücklich bei der Polizei, die die Abordnung sowohl in der S-Bahn als auch auf dem Weg zum Markt begleitete. Dort begeisterte eine Band der Wurzener Pfadfinder mit flottem Irish Folk: „Wir sind eine Band nur für diesen einen Tag“, sagte Stefan Winkelmann.
Viola Heß, Vorsitzende des Ringelnatzvereins, erinnerte an den in Wurzen geborenen eigenwilligen Künstler, der unter den Nazis verboten gewesen war, dessen Andenken in Wurzen aber bis heute bewahrt werde. Er habe über alles gespottet, sagte Heß, auch über Politik und Polizei, über Geld und Kapitalismus und habe gewusst: „Humor ist der Knopf, der verhindert, dass mir der Kragen platzt.“ Als ein rechter Youtuber filmen wollte, rief die Menge ironisch: „Lügenpresse“.
Wurzener OBM kann seine Rede nicht halten
Unter dem Beifall der Kundgebungsteilnehmer verkündete das junge FDP-Mitglied Jonas Siegert, dass „Grimma zeigt Kante“ am Wochenende eine eigene Liste für die Grimmaer Stadtratswahl aufgestellt habe. Er selbst sei Spitzenkandidat, so Siegert. Wurzens Oberbürgermeister Marcel Buchta (parteilos) beendete seinen Urlaub extra, um in Wurzen zu sprechen. Doch er kam nicht mehr dazu. Der laute Knall in einem der Markthäuser sorgte für das jähe Ende der Kundgebung. Thilo Bergt von der Feuerwehr: „Auf der Rückseite des Gebäudes war sowohl im Innern als auch auf dem Balkon ein Brand ausgebrochen. Nach etwa einer Stunde war alles gelöscht.“ Zu der Zeit waren die meisten Teilnehmer längst auf dem Heimweg.
Quelle: LVZ vom 04.03.2024