Stadtwandler unterwegs zwischen Engel von Sibirien und Klein-Venedig

Von Haig Latchinian

Zwei Dutzend Interessierte beteiligen sich am dritten Wurzener Stadtspaziergang

Wurzen. Von Park zu Park und von Denkmal zu Denkmal – zwei Dutzend Wurzener folgten der Einladung des Verschönerungsvereines zum Stadtspaziergang. Heimatforscher Jens Haubner erneuerte am Kriegermahnmal im Alten Friedhof seine in Wurzen noch immer umstrittene These:

Bei der Plastik der Frau mit sterbendem Soldaten handele es sich nicht um eine Mutter, die ihren gefallenen Sohn betrauert: „Es ist die schwedische Krankenschwester Elsa Brändström, der Engel von Sibirien.“ Laut Haubner werde die schwedische Honorarkonsulin Petra Löschke im März eine Erinnerungstafel enthüllen.

Nächste Station: das „weltweit einzige Geburtshaus“ von Dichter Joachim Ringelnatz im Crostigall. Thomas Zittier, Chef des Verschönerungsvereins „Die Stadtwandler“, wünscht sich, dass hier bald wieder Leben einzieht. Das Haus sei derzeit ungenutzt und müsse von Grund auf saniert werden. Um an Fördermittel zu kommen, brauche es ein nachhaltiges Nutzungskonzept. „So viel steht fest: Ein weiteres Kulturhaus kann Wurzen nicht schultern. Wie wäre es, wenn wir einen Kindergarten daraus machen – Heimstatt vieler kleiner Ringelnatze oder Seepferdchen?“ Die Stadtspaziergänger begrüßten den Vorschlag ausdrücklich, Ringelnatz hätte sicher nichts dagegen gehabt, vor allem steige der Bedarf an Kitaplätzen, hieß es.

Inzwischen ist die abgerissene, damals herrschaftliche Krietsch-Villa nur noch auf alten Postkarten zu bewundern: Der erhöht liegende, über ein stilechtes Portal mit kunstvoll geschmiedeten Toren und lustvoll geschwungenen Treppen zu erreichende Prachtbau vermittelte einst einen Hauch Bella Italia mitten in Wurzen: Über den Mühlgraben schipperten Boote, auf der Promenade verkehrte der erste Oberleitungsbus der Welt… Als die Stadtwandler an verrosteten Toren und bröckelnden Mauern ankamen, träumte mancher bereits vom kleinen, aber feinen Park, andere heizten die Gerüchteküche an: Der Mühlenfabrikant habe den Palazzo im Stile der Neorenaissance seiner angeblich italienischen Frau gewidmet. – „Alles Quatsch“, sagte Ortschronist Wolfgang Ebert. Klein-Venedig habe die Fantasie der Wurzener schon immer über die Maßen beflügelt. Das Fliegen überlasse man lieber den Löwen, so Ebert.

Hochfliegende Pläne unterhalb des Schlosses. Katrin Hussock von der Standortinitiative Wurzen berichtete von der Idee der hängenden Obstgärten: „Schloss, Bundessortenamt, Kirche, Denkmalschutz – viele Akteure würden den Hang sehr gern aufwerten“, so Hussock. 26 Kommunen beteiligten sich in diesem Jahr am Wettbewerb „Ab in die Mitte“. Dem Sieger winken 30 000 Euro. Morgen, 15 Uhr, verkündet die Jury in Torgau, ob Wurzen ein Preisgeld erhält. Ortschronist Ebert drückt fest die Daumen: „1790 besuchte Philosoph Johann Gottlieb Fichte in Wurzen seinen alten Schulfreund Christian Beatus Kenzelmann, der unweit des Schlossberges als Diakon eingesetzt war und dort Wein anbaute. Er schätzte die Lage oberhalb des Rietzschketales. Später ging er nach Meißen und gilt als einer der Wiederbegründer des dortigen Weinanbaus.“

Vorbei an Stromkästen, die die Stadtwandler verschönerten, führt der Weg direkt in den Stadtpark. Teppichfabrikbesitzer Petter Andreas Georg Juel ließ ihn vor über 130 Jahren anlegen. Der erste dort gepflanzte Baum erinnert noch heute an den Wurzener Ehrenbürger und sächsischen Bergmeister Wilhelm Fischer. Schlossherr Ronny Wedekind informierte am Gedenkstein für die gefallenen Soldaten des Feld-Artillerie-Regiments No. 78 über eine weitere Eiche: „Die stand zunächst hier am Denkmal, wurde später umgesetzt und gedeiht inzwischen vor der Parkhütte prächtig.“

 

Quelle: LVZ vöm 27.10.2015, Seite

 

Am Kriegerdenkmal im Alten Friedhof: Claudia Zittier von den Stadtwandlern schaut sich Bilder
von Elsa Brändström an. Fotos: Haig Latchinian

 

Ringelnatzhaus als Kindergarten? Der kleine William Wedekind fände das gut. Fotos: Haig Latchinia

 

Kunst an der Strecke: Stadtwandler Carsten Schneider am Stromkasten Fotos: Haig Latchinian